Digitale Zwillinge (DZ) sind digitale Duplikate von physischen Objekten. Mithilfe dieser Technologie können Unternehmen bessere Einblicke in die Produktleistung gewinnen, die Produktqualität steigern, den Kundenservice verbessern, die Betriebskosten senken und vieles mehr. In einem früheren Artikel haben wir einige dieser Vorteile vorgestellt. Heute werden wir uns weitere Beispiele für digitale Zwillinge und ihre Vorteile für verschiedene Branchen genauer ansehen.
Die Szenarien für den Einsatz eines digitalen Zwillings unterscheiden sich je nach Geschäftsziel in ihrer Komplexität. Insgesamt gibt es drei Szenarien:
Basislevel: Asset Monitoring. Um einen DZ zu erstellen, sammeln Datentechniker relevante Daten über das reale Objekt (Echtzeit- und historische Sensordaten, Wartungsdaten usw.). Anschließend speisen sie diese Informationen in eine DZ-Software ein, die ein virtuelles Modell des Objekts in der Cloud erstellt. Solche Modelle ermöglichen es, physische Assets zu überwachen und Daten für eine zukünftige Nutzung über sie zu sammeln. Auf dieser Ebene ist ein DZ nichts anderes als eine Datenbank mit intuitiv verständlichen Schnittstellen, in Hinblick Funktionalität und Kosten.
Mittleres Level: Was-wäre-wenn-Simulationen. Ein einfacher DZ kann um Was-wäre-wenn-Modelle erweitert werden. Dies ermöglicht Unternehmen, mit Betriebseinstellungen von Anlagen oder Prozessen zu experimentieren, um die optimale Betriebskonfiguration zu finden.
Fortgeschrittenes Level: KI-fähige Systeme. DZ können auch mit ML-Algorithmen ausgestattet werden, die auf von Sensoren erfassten Daten trainiert werden. Solche Systeme können abweichendes Verhalten schnell erkennen und korrigierende Maßnahmen vorschlagen oder ergreifen.
In der Einzelhandelsbranche ist der Einsatz von digitalen Zwillingen sowohl in der Lieferkette als auch im Geschäft von Vorteil. Zur Erstellung von Lieferkettensimulationen verwenden Einzelhändler Sensor- und Gerätedaten in Echtzeit sowie ERP- und andere Geschäftssystemdaten. Die Modelle geben einen Überblick über die Leistung der Lieferkette, einschließlich der Anlagen, Lager, Materialflüsse, Bestände und Mitarbeiter. Zur Erstellung digitaler Repliken in den Geschäften nutzen Einzelhändler Daten, die von RFID-Lesegeräten, Bewegungssensoren und smarten Regalen erfasst werden. Mit diesen Modellen können sie Kundenbewegungen und Kaufverhalten analysieren und testen, wie Produkte optimal platziert werden können.
Die französische Supermarktkette Intermarché erstellte einen digitalen Zwilling eines stationären Ladens auf Basis von Daten aus IoT-fähigen Regalen und Verkaufssystemen. Jetzt können Filialleiter den Bestand einfach verwalten und testen, wie effektiv unterschiedliche Ladendesigns sind.
Mit digitalen Zwillingen können Einzelhändler:
Wasserversorgungsunternehmen nutzen digitale Zwillinge, um eine ununterbrochene Wasserversorgung sicherzustellen und besser auf Notfallsituationen vorbereitet zu sein. Mit digitalen Kopien können sie eine genaue Einschätzung des Verhaltens des aktuellen Wassersystems erhalten, Ausfälle identifizieren, bevor sie auftreten, und Was-wäre-wenn-Szenarien simulieren.
Wasserversorgungsunternehmen erstellen virtuelle Repräsentationen von Wassersystemen basierend auf den Daten, die Sensoren und Aktoren über die Leistung des physischen Systems erfassen. Zusätzlich nutzen sie Daten aus Informationssystemen in der Wasserwirtschaft, wie CMMS (Instandhaltungsplanungs- und -steuerungssystem), GIS (Geoinformationssysteme) und SCADA (Überwachung, Steuerung und Datenerfassung).
Aguas do Porto (AdP), ein portugiesisches Versorgungsunternehmen, ist für die Wasserversorgung der Stadt Porto verantwortlich. Mit digitalen Zwillingen kann AdP Überschwemmungen und Probleme der Wasserqualität vorhersagen, städtische Dienstleistungen verbessern, die Reaktion auf Notfälle optimieren und die Widerstandsfähigkeit der Wasserinfrastruktur gewährleisten.
Die Lösung erstellt virtuelle Modelle auf der Grundlage von Sensor- und Telemetriedaten, die sie mit Informationen aus 20 anderen Quellen kombiniert: Kundendienstmanagement, Abrechnungen, Wartung, Anlagenbuchhaltung usw. Digitale Zwillinge ermöglichen es AdP, die Wasserversorgungssysteme in Echtzeit zu überwachen. Sie werden auch verwendet, um Prognosen zum Wasserverbrauch zu erstellen und Szenarien von Rohrbrüchen sowie Ventil- und Pumpenabschaltungen zu simulieren.
Digitale Zwillinge helfen Versorgungsunternehmen, potenzielle Lecks schnell zu lokalisieren und Wasserverluste zu reduzieren. Mit virtuellen Simulationen können sie verschiedene Methoden des Wassersystembetriebs testen, um die Reaktion auf Notfälle zu optimieren, die Zuverlässigkeit der Wasserversorgung zu erhöhen und Energie zu sparen.
AdP kann das bestätigen: Sie konnten die Betriebsgewinne um 23 % steigern und die Zeit für die Reparatur von Rohrbrüchen um 8 % verkürzen. Außerdem reduzierten sie Unterbrechungen der Wasserversorgung um 23 % und die Anzahl der Kanaleinstürze um 54 %.
In der industriellen Fertigung werden digitale Zwillinge verwendet, um den Produktionsprozess zu simulieren. Basierend auf Daten von Sensoren, die mit Maschinen, Fertigungswerkzeugen und anderen Geräten verbunden sind, können Hersteller virtuelle Darstellungen eines realen Produkts, von Ausrüstungselementen, eines Produktionsprozesses oder eines ganzen Systems erstellen.
In der Fertigung helfen solche Simulationen, den Maschinenbetrieb zu überwachen und in Echtzeit zu optimieren. Ergänzt durch Algorithmen des maschinellen Lernens helfen digitale Zwillinge Fertigungsunternehmen, Probleme zu erkennen, bevor sie auftreten, und zukünftige Ereignisse vorherzusagen. Für Wartungszwecke eingesetzt helfen digitale Zwillinge dabei, den Zustand einer Anlage zu überwachen und so potenzielle Ausfälle rechtzeitig zu erkennen. Sie erfassen Echtzeitdaten zum Anlagenbetrieb und ergänzen diese mit historischen Daten zu Ausfällen sowie kontextbezogenen Wartungsdaten. Mithilfe von maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz sagt die Lösung voraus, wann Wartungsmaßnahmen notwendig werden. Auf Basis dieser Daten können Unternehmen proaktiv handeln, um Produktionsausfälle zu vermeiden.
Unilever PLC setzt digitale Zwillinge ein, um den Produktionsprozess effizienter und flexibler zu gestalten. Das Unternehmen erstellte virtuelle Modelle seiner Fabriken. An jedem Standort speisen die IoT-Sensoren Echtzeit-Leistungsdaten wie Temperatur und Motordrehzahl in die Cloud des Unternehmens ein. Mittels fortschrittlicher Analysen und ML-Algorithmen simuliert ein digitaler IoT-Zwilling komplexe Was-wäre-wenn-Szenarien, um die besten Betriebsbedingungen zu ermitteln. Dies hilft den Herstellern, Materialien präziser einzusetzen und Produkte zu bieten, die den Qualitätsstandards entsprechen. Zurzeit betreibt Unilever acht digitale Zwillinge in Nordamerika, Südamerika, Europa und Asien.
Ein gutes Beispiel für digitale Zwillinge in der Pharmabranche ist die Zusammenarbeit zwischen Atos, einem Beratungsunternehmen für digitale Transformation, und dem Technologiekonzern Siemens. Die Unternehmen arbeiten an digitalen Zwillingen für die Pharmaindustrie. Die Lösung erstellt ein digitales Abbild eines bestimmten Produktionsschrittes. Verbunden mit IoT-Sensoren, die in der eigentlichen Anlage installiert sind, gibt das System einen sofortigen Überblick über alle betrieblichen Details. Angetrieben durch KI und Advanced Analytics bietet die Lösung auch optimierte Maßnahmen für höhere Prozessqualität und -sicherheit.
Fertigungsunternehmen, die digitale Zwillinge in ihren Produktionslinien einsetzen, berichten von folgenden Effekten:
Im Gesundheitswesen können digitale Zwillinge für das Design von medizinischen Geräten – insbesondere von Vena-Cava-Filtern – verwendet werden. Dazu werden zwei virtuelle Repliken benötigt: der digitale Zwilling des Patienten mit dessen spezifischen anatomischen und physiologischen Merkmalen und der digitale Zwilling des medizinischen Geräts mit seinen Parametern. Durch die Korrelation der beiden Modelle können Forscher im Gesundheitswesen sehen, was passiert, wenn ein bestimmtes Gerät in den Körper des Patienten eingesetzt wird.
Digitale Zwillinge helfen auch dabei, die Leistung des Geräts zu optimieren, indem Hunderte von Simulationen unter verschiedenen Bedingungen und mit unterschiedlichen Patienten durchgeführt werden.
Das Living Heart Project ist eine internationale Forschungskooperation, die sich mit der Entwicklung und Validierung hochpräziser personalisierter digitaler Modelle des menschlichen Herzens auf Basis von MRT-Bildern und EKG-Daten beschäftigt. An dem Projekt sind die FDA, führende Herz-Kreislauf-Forscher, Pädagogen, Entwickler von medizinischen Geräten und praktizierende Kardiologen beteiligt. Sie nutzen das digitale Zwillingsherz, um In-vivo-Bedingungen (in einem lebenden Organismus) zu simulieren, Anatomie zu visualisieren, die man nicht sehen kann, und Designs von kardiologischen Geräten schneller zu verfeinern. Das Team hofft, dass dieses Experiment als Lehrstück für zukünftige in silico (über Computersimulationen durchgeführte) Studien dienen wird.
Digitale Zwillinge ermöglichen es im Gesundheitswesen, komplexe medizinische Geräte für einzelne Patienten zu entwerfen und anzupassen, sodass sie mit den einzigartigen anatomischen und physiologischen Systemen des jeweiligen Patienten kompatibel sind. Sie beschleunigen den Designprozess und reduzieren die Kosten, indem sie den Bedarf an Operationen und klinischen Studien verringern, Tierversuche stark reduzieren und keine Nebenwirkungen erzeugen.
Die oben genannten Beispiele verdeutlichen die zahlreichen Vorteile, die der Einsatz digitaler Zwillinge für Unternehmen mit sich bringt. Auch kleinere Organisationen können in Zukunft verstärkt von digitalen Zwillingen profitieren. Digitale Zwillinge werden erschwinglicher. Gründe hierfür sind u. A. die sich schnell verbessernden Modellierungsmöglichkeiten, die zunehmende Verbreitung von IoT-Sensorinstallationen und die steigende Verfügbarkeit von Tools und Rechnerinfrastruktur.
Aus diesem Grund kommt diese Technologie immer mehr in Schwung. IDC prognostiziert, dass bis 2022 40 % der Anbieter von IoT-Plattformen Simulationsplattformen, -systeme und -funktionen integrieren werden, um digitale Zwillinge zu erstellen. Zwei Drittel der Hersteller werden die Technologie nutzen, um Prozesssimulationen und Szenariobewertungen durchzuführen. Die Gründe für den Einsatz von digitalen Zwillingen unterscheiden sich vielleicht je nach Branche, Fakt ist jedoch: die Technologie bringt allen Branchen Vorteile.